Landflucht in den Ruin

Niemals zuvor strömten mehr Menschen in Afrikas Städte. Die Verhältnisse dort werden zum Nährboden für schwere Unruhen. 

Von Thomas Scheen

Das Leben in der Stadt hatte sich Joseph Mulungu anders vorgestellt. Irgendwie besser als in seinem Dorf im Norden Kenias. Joseph lebt mit Frau und zwei Kindern in Kibera, einem der größten Slums der Hauptstadt Nairobi. Sein Zuhause ist eine windschiefe Wellblechhütte, deren einziger Raum mit einem Vorhang in einen Schlaf- und einen Wohn- und Kochbereich unterteilt ist. Die Hütte ist auf einem schlammigen Hügel errichtet, der bei jedem Regenfall abzurutschen droht. Einen Wasseranschluss gibt es ebenso wenig wie Strom. Dafür fließen die Fäkalien in einer Rinne unmittelbar vor der Eingangstür vorbei, bevor sie sich in den Nairobi River ergießen. Der wiederum dient den Frauen in dem Slum als Waschküche. 6000 Schilling, umgerechnet rund 60 Euro, zahlt der 42 Jahre alte Kenianer für das Loch. Das ist viel Geld in Kenia. Angesichts der sonstigen Preise in Kibera sei er damit aber noch gut bedient, sagt der Mann, der als seinen Beruf „Diplomübersetzer“ angibt. Liegen die Hütten näher an einer geteerten Straße, seien Mieten von 10000 Schilling und mehr normal.

So wie Joseph Mulungu leben allein in Kibera mehr als 250000 Menschen. Niemals zuvor in der Geschichte hat es eine schnellere und dramatischere Urbanisierung gegeben als derzeit in Afrika. Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache: Bis 2030, so eine Studie der Vereinten Nationen und der Weltbank, werden die afrikanischen Städte einen jährlichen Bevölkerungszuwachs von 15 bis 18 Millionen Menschen bewältigen müssen. Die städtische Bevölkerung wird zweimal so schnell wachsen wie das ohnehin hohe Bevölkerungswachstum von durchschnittlich drei Prozent im Jahr. Bewahrheiten sich diese Prognosen, werden im Jahr 2030 rund 750 Millionen Afrikaner in urbanen Zentren leben. Anders ausgedrückt: Jeder zweite Afrikaner wird in einer Stadt leben. Eine Stadt wie die kongolesische Metropole Kinshasa, die gegenwärtig 11,3 Millionen Einwohner zählt, wird dann 17 Millionen Menschen beherbergen. Das nigerianische Lagos wird bis 2030 auf rund 18 Millionen Bewohner anschwellen.

Dabei sind afrikanische Städte jetzt schon ein fürchterliches Durcheinander aus scheinbar willkürlich aufeinanderfolgenden Siedlungen. Kohärente Bebauungspläne oder so etwas wie eine urbane Entwicklungsstrategie existieren in den meisten Städten einfach nicht. Das ist durchaus gewollt, weil sich auf diese Weise viel Geld verdienen lässt. Da wird die Baugenehmigung für ein einstöckiges Haus gerne als Erlaubnis für ein vierstöckiges interpretiert und Sumpfland mit Wellblechhütten zugestellt, weil die Renditen nirgends höher sind als in den Slums. Mit solchen Kleinigkeiten wie Wasserversorgung oder Müllabfuhr halten sich die Stadtverwaltungen schon deshalb nicht auf, weil ein Slum per Definition eine illegale Siedlung ist, die es erstens nicht geben darf und um die man sich zweitens nicht kümmern muss. Welche Folgen diese Haltung haben kann, zeigte sich Anfang März in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba, als 113 Menschen ums Leben kamen, nachdem ein gigantischer Müllberg ins Rutschen geraten war und ihre Behausungen unter sich begraben hatte.

Gleichzeitig sorgt das zügellose Wachstum der afrikanischen Städte für schwere soziale Verwerfungen. Wenn es darum geht, die Armut in Afrika zu beschreiben, wurde bislang gerne das Bild des Bauern benutzt, der seinen Acker mit vorsintflutlich anmutenden Geräten bestellt. Dieses Bild stimmt nicht mehr. Heute konzentriert sich die Armut in den Städten, und je rasanter diese wachsen, umso größer wird sie und mit ihr das Potential für schwere Unruhen.

Das liegt vor allem daran, dass die Städte auf dem Kontinent ihre ureigene Rolle nicht spielen. Städte sind immer und überall Wirtschaftsbeschleuniger für das Hinterland – Orte, an denen die Dienstleistungen für die Produktion auf dem Land erbracht werden. Daraus schöpfen urbane Zentren ihren Reichtum. In Afrika ist das anders. Weil die Landwirtschaft aufgrund mangelnder Investitionen immer noch überwiegend eine Subsistenzwirtschaft ist, produziert das Hinterland nichts – nicht einmal ausreichend Lebensmittel für die städtische Bevölkerung. Als Folge daraus leben die Städte von Importen, was sie zu ungemein kostspieligen Pflastern macht. Alles ist unverhältnismäßig teuer: Essen, Transport, Mieten.

Gleichzeitig fehlt es in den urbanen Zentren an industriellen Betrieben, um den Heerscharen von Städtern Verdienstmöglichkeiten für ihr teures Leben zu verschaffen. In der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh beispielsweise sind nahezu zwanzig Prozent der städtischen Fläche mit Betrieben bebaut. In Addis Abeba beträgt dieser Wert ein Prozent. Afrikanische Städte mutieren infolgedessen zu riesigen Armenvierteln, und je schneller sie wachsen, umso dramatischer wird diese Situation. Die kenianische Hauptstadt Nairobi etwa beherbergt nach konservativen Schätzungen inzwischen rund fünf Millionen Einwohner. 2,5 Millionen davon leben aufgrund mangelnder Kaufkraft in Slums, aus denen es kaum ein Entrinnen gibt. Dabei sind vierzig Prozent der afrikanischen Bevölkerung jünger als zwanzig Jahre. Die Konsequenzen aus dieser Kombination von massenhafter Jugendarbeitslosigkeit und prekären Lebensverhältnissen kann sich jeder leicht ausmalen.

Joseph Mulungu jedenfalls hat genug von Kibera. Eine feste Anstellung in seinem Beruf als Übersetzer hat er auch in der Stadt nicht gefunden. Dafür viele kleine Jobs als Tagelöhner, die schlecht bezahlt werden und ihn und seine Familie mehr schlecht als recht über Wasser halten. Er denkt jetzt ans Auswandern. Nach Südafrika vielleicht oder noch besser nach Europa. Er sagt, so dächten alle in den Slums.

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